Kommentar zu: Udo Reifner, Kollektiver Rechtsgebrauch: Die Massenklagen der IG Metall gegen die Aussperrung, ZfRSoz 2 (1981), S. 88-113 und: Udo Reifner, Zugangs‑ und Erfolgsbarrieren in der Justiz, in: Demokratie und Recht 1981, S. 143 ff, S. 396 ff.
von Eva Kocher

 

Kollektives Handeln in rechtlichen Formen?

Im Jahr 2009 wurde im US-amerikanischen New Labor Forum wieder einmal eine Kontroverse unter dem Titel „Solidarity First – Labor Rights Are Not the Same as Human Rights“ geführt.((Kollektiver Rechtsgebrauch)) Die These: Es bedeute das Ende der Gewerkschaftsbewegung „as we know it“, wolle man „Solidarität“ als Anker für Gerechtigkeitsvorstellungen in der Erwerbsarbeit durch „individuelle Menschenrechte“ ersetzen. Die Durchsetzung von Menschenrechten sei häufig ein Diskurs der Fürsorge gegenüber Opfern statt der Ermächtigung und der Förderung kollektiven Handelns.

An dieser Debatte um den „gewerkschaftlichen Legalismus“ hat sich Udo 1981 mit seinem Text über die Massenklagen der IG Metall gegen die Aussperrung differenziert Stellung genommen. Auf einer theoretischen Ebene differenziert er dabei zwischen individualistisch angelegten Rechtsformen, die individualistisches Verhalten erzwingen, und rechtlichen Formen, die „Spuren einer verstärkten sozialen Bewegung [reflektieren]“. Kollektive Rechtsformen stünden nicht notwendig in einem Widerspruch zum solidarischen Handeln((Kollektiver Rechtsgebrauch)) – obwohl die spezifischen Mechanismen der Rechtspraxis für kollektives Handeln durchaus problematisch sein könnten, da (Gerichts-)Verfahren Dynamiken von Folgenbewältigung statt Ursachendiskussion, Repräsentationsprinzip, ex cathedra-Wirkungen produzierten((Reifner, ZfRSoz 2 (1981), S. 90 ff.)) Andererseits: Verrechtlichung habe auch Publizitäts- und Legitimationswirkungen und kann Problembewusstsein schaffen.((Reifner, ZfRSoz 2 (1981), S. 90 ff.))

Die Massenklagen der IG Metall Ende der 1970er Jahre

Jedenfalls das kontinentaleuropäische Arbeitsrecht ist tatsächlich nicht ausschließlich durch „individualistisches“ Recht, sondern durch rechtlich geschütztes kollektives Handeln in Wahrnehmung von Kollektivautonomie (insbesondere Kollektivverhandlungsfreiheit) geprägt. Auch in Deutschland, wo die Gewerkschaften das Recht früh entdeckt haben und zur Fixierung von Verhandlungsergebnissen in Tarifverträgen nutzen, spielt die Mobilisierung von Solidarität, Arbeitskampfoptionen und verrechtlichten kollektiven Handlungsformen eine zentrale Rolle für die Durchsetzung von Beschäftigteninteressen.((Blanke, Die Entdeckung des Arbeitsrechts durch die Gewerkschaften, ArbuR 1994, S. 113 ff.))

Udo Reifners Text über die Massenklagen der IG Metall im Nachgang der Arbeitskämpfe von 1977/78/79 thematisiert allerdings ein Ereignis, das einen wichtigen Wendepunkt in der gewerkschaftlichen Nutzung des Arbeitsrechts darstellte: Dies war nicht nur das erste Mal, das eine Gewerkschaft eine bestimmte Rechtsposition – Verfassungswidrigkeit der Aussperrung – gezielt publizistisch, rechtswissenschaftlich und politisch vorbereitet hatte.((Genauer Kittner, AuR 2015, G 5 ff.)) Das resultierende BAG-Urteil vom 10.6.1980((BAG (GS) 10.6.1980, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.)) ist bis heute Markstein und Referenz des Arbeitskampfrechts, berühmt für den Satz: „Bei diesem Interessengegensatz wären Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik im allgemeinen nicht mehr als ‚kollektives Betteln‘ (Blanpain).“ Dies war aber auch das erste Mal, dass individualistisch angelegte Rechte wie der Annahmeverzugsanspruch aus § 615 BGB gezielt mit kollektivem Handeln verbunden wurden. Die Frage, wie ein klassisch bürgerlich-rechtlicher Anspruch einzelner Arbeitnehmer*innen, der dem Schutz individueller und nicht kollektiver Interessen (der Gewerkschaft) dient, mit einer Massenklagestrategie zu kollektivem Handeln genutzt werden kann, wird in Udos Text auf den Punkt gebracht. Umso mehr als er ein bisher in diesem Ausmaß einzigartiges soziales Experiment behandelt, ist diese genaue Analyse bis heute von großem Wert.

Dabei macht die konkrete Beschreibung der spezifischen Strategien der IG Metall für die Massenklagen indirekt die Grenzen und Probleme individualisierten rechtlichen Handelns mehr als deutlich: Die Klageschrift war mindestens so sehr an die Kläger*innen/Arbeiter*innen gerichtet wie an die Gerichte und konzentrierte sich auf klare und einfache Argumente; sie musste es den Arbeitnehmer*innen ermöglichen, den Inhalt der Klageschrift und ihr Anliegen auch in informellen Gesprächen im Familien- und Bekanntenkreis zu verteidigen. Die Verhandlungstermine vor den Arbeitsgerichten wurden zudem durch Demonstrationszüge begleitet.((Reifner, ZfRSoz 2 (1981), S. 101 ff.)) Das Fazit des Textes ist grundsätzlich positiv: „Durch den massenhaften Kontakt mit Gerichten wurde Wissen über die Gerichtsbarkeit vermittelt, die immer noch den Nimbus des Undurchschaubaren, Abstrakten und undiskutierbar Autoritären hat“ – „die Massenklageaktion war eine unter optimalen Lernbedingungen massenhaft durchgeführte Arbeitsrechtsschulung der Arbeitnehmer“.((Reifner, ZfRSoz 2 (1981), S. 101 ff.))

Die Grenzen kollektiven nicht-rechtlichen Handelns

Der Text nennt gute Gründe dafür, die emanzipativen Chancen rechtlichen Handelns daran zu messen, wie sie kollektives Handeln ermöglichen oder integrieren. Auch kollektives Handeln hat aber gewisse notwendige Grenzen – es findet in einem gesellschaftlichen Umfeld statt, das nicht nur von strukturellen Ungleichgewichten zulasten von Arbeitnehmer*innen, sondern auch von struktureller Diskriminierung und hegemonialer Stereotypisierung gekennzeichnet ist. Dies hat Einfluss auf kollektive Willensbildungsprozesse, gewerkschaftliche Mitgliedschaftsstrukturen und die imaginierten kollektiven Selbstbilder der „Arbeitnehmerschaft“; auch diese stellen sich als hegemonial vergeschlechtlicht dar.((Zur Vergeschlechtlichung des kollektiven Handelns in der Erwerbsarbeit siehe z.B. SchambachHardtke Gender und Gewerkschaften, Der Kampf von Frauen um politische Partizipation im organisationalen Handeln, 2005; Greifenstein/Kißler Wen Betriebsräte repräsentieren – Sozialprofil von Interessen­vertretungen und Belegschaftsstrukturen: Spiegelbild oder Zerrbild?, 2014.)) Gewerkschaftliche Minderheiten oder auch Gruppen, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, sind für ihre Interessendurchsetzung darauf angewiesen, dass andere sich für sie einsetzen und dass Solidarität und Umverteilung auch unter den Arbeitnehmer*innen wirksam wird.

Aufgrund dessen sind schwach repräsentierte Gruppen stärker auf Recht angewiesen als das durchschnittliche Gewerkschaftsmitglied. Insbesondere das Antidiskriminierungsrecht schützt Interessen und Personen, die im Kollektiv der gewerkschaftlich und betriebsrätlich vertretenen Arbeitnehmer*innen nicht notwendig schon vertreten sind. Diese „horizontalen“ Verteilungskonflikte unter den Beschäftigten stellen eine eigene Dimension des Arbeitsrechts dar.((Mundlak, The Third Function of Labour Law: Distributing Labour Market Opportunities among Workers, in: Davidov/Langille (Hg.) The Idea of Labour Law, 2011, S. 315 ff.)) Aktuell wird sie überwiegend über Individualrechte mobilisiert.

Die notwendigen Widersprüche zwischen kollektivem Handeln und Individualrechten stellen das Antidiskriminierungsrecht unter Rechtfertigungsdruck. Einige Autoren stellen es gar kollektivem Handeln als unvereinbar gegenüber: Antidiskriminierungsrecht sei in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen mit gut entwickeltem Sozialschutz entweder überflüssig oder leiste einer Neuorientierung der Sozialpolitik vom Insiderschutz zu einem bloßen Schutz von Zugangschancen Vorschub.((Mundlak, The Third Function of Labour Law: Distributing Labour Market Opportunities among Workers, in: Davidov/Langille (Hg.) The Idea of Labour Law, 2011, S. 315 ff.))

Auch Kollektivrechte müssen erst mobilisiert werden, um wirksam zu werden

Aber gibt es nicht auch Wege, die „dritte Dimension“ des Arbeitsrechts in einer Weise ins Spiel zu bringen, die Kollektiv- und Solidaritätsprinzipien fortsetzt? Insbesondere Mechanismen der Kollektivklage, wie insbesondere die Verbandsklage kämen als geeignete Handlungsinstrumente in Betracht –wenn sie so konstruiert werden könnten, dass Streitgegenstand und kollektives Interesse am Streit in eins fallen oder möglichst eng verbunden werden.((Mundlak, The Third Function of Labour Law: Distributing Labour Market Opportunities among Workers, in: Davidov/Langille (Hg.) The Idea of Labour Law, 2011, S. 315 ff.))

Dafür bedarf es aber geeigneter Akteure. Aber welche Akteur*innen könnten kollektives und rechtliches Handeln nicht oder schwach organisierter Gruppen vorantreiben? Vergeschlechtliche und gesellschaftlich marginalisierte Interessen leiden meist unter schwacher Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit; entsprechende Vereine und Verbände können kaum auf solidarische und kollektive Handlungsformen zurückgreifen. Und Udo kritisiert zu Recht darauf, dass eine rein technische Sichtweise, die die Vermittlung von Kollektivinteressen nur als Problem der Organisation behandelt, zu kurz greift, soweit sie nicht die Notwendigkeit und Unabdingbarkeit sozialer Bewegung erkennt.

Die Suche nach Akteuren für kollektive Rechtsformen ist der Versuch der Quadratur eines Kreises: Die emanzipatorischen Chancen, die dem Recht zukommen können, entfalten sich nur, soweit das Recht von widerständigen Personen in sozialen Konflikten in Gebrauch genommen wird.((Mundlak, The Third Function of Labour Law: Distributing Labour Market Opportunities among Workers, in: Davidov/Langille (Hg.) The Idea of Labour Law, 2011, S. 315 ff.)) Selbst behördliche Kontrollen sind darauf angewiesen, dass am Ende jemand bereit ist, den eigenen Namen und die eigene Person als Zeug*in oder Betroffene offen zu legen und ins Spiel zu setzen – umso mehr Verbände und andere „kollektive“ Akteure. Das Verhältnis von Recht und kollektivem Handeln wirft also Fragen auf, die sich allein durch Forschung und Nachdenken nicht beantworten lassen: Wie entsteht eine Wirklichkeit für den Gebrauch des Rechts in sozialen Situationen, in denen niemand sich wehren mag? Wie kann kollektives Handeln in Betrieben aussehen, in denen es keinen Betriebsrat gibt, kein*e Gewerkschaftsfunktionär*in sich blicken lässt? Dies sind Fragen, die sich nicht allein im Recht, sondern vor allem in kollektiver Praxis und gesellschaftlichen Konflikten beantworten müssen – in denen das Recht allerdings Handlungsformen anbieten kann.

Transformation des (Rechts-)Systems

Reifners Text zeigt die Chancen, aber implizit auch die Grenzen einer kollektiven Nutzung von Individualrechten auf – anhand einer Praxis von Massenklagen, die nicht Schule gemacht hat. Einen sozialen Konflikt als sozialen und nicht nur rechtlichen Konflikt vor die Gerichte zu bringen, setzt viel voraus – nicht zuletzt Organisation. Wenn es aber gelingt, können die Chancen und Wirkungen weit über den individuellen Konflikt hinausreichen. In den Konflikten Ende der 1970er Jahren merkte die Gegenseite der Massenklagen dies sehr schnell; die damaligen heftigen Angriffe gegen einen solchen „Missbrauch der Justiz“ zeigen dies deutlich genug.((Mundlak, The Third Function of Labour Law: Distributing Labour Market Opportunities among Workers, in: Davidov/Langille (Hg.) The Idea of Labour Law, 2011, S. 315 ff.))

Ob es tatsächlich – wie Udo vermutet – vor allem diese Massenklagen waren, die Hierarchien an den Arbeitsgerichten auflockerten, Diskussionen unter den Arbeitsrichter*innen anregten und die Rechtsprechung zur Aufnahme sozio-ökonomischer und politischer Argumente öffneten,((Mundlak, The Third Function of Labour Law: Distributing Labour Market Opportunities among Workers, in: Davidov/Langille (Hg.) The Idea of Labour Law, 2011, S. 315 ff.)) mag zweifelhaft sein. Aber was alles erforderlich wäre, um das Recht „zu entmystifizieren und für Alltagskritik zu öffnen“, um „die behauptete Trennung zwischen rechtlich informierter und politisierend laienhafter Argumentation als Herrschaftsargument“ aufzudecken: Das wurde kaum jemals so pointiert dargestellt wie in Reifners Text.

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