Mythos Microlending zum Download (pdf)

Udo Reifner, Hamburg (01.01.2012)


Mythos Microlending
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Inhaltsverzeichnis


1.Die Technik: Kleinkredite für Existenzgründung S. 2;
2.Die Bewegung: Befreiung aus Armut durch Selbsthilfe S. 4;
2.1 Die Lehre S. 4;
2.2 Der Prophet S. 7;
2.3 Die Verheißungen S. 9;
3.Die verfehlten Ziele: Emanzipation aus Armut S. 12;
3.1 Arbeitslosigkeit S. 12;
3.1.1 Das Prinzip S. 12;
3.1.2 Die Evaluation S. 13;
3.2 Kreditklemme S. 15;
3.3 Selbsthilfe S. 21;
3.4 Frauenemanzipation S. 22;
4.Die erreichten Ziele: Ideologische Bewältigung der Finanzkrise S. 24;
4.1 Kapitalanlage (ethisches Investment) S. 25;
4.2 Absatzmärkte S. 27;
4.3 Deregulierung S. 27;
5.Die Alternative: Mikrokredit als Lernprogramm S. 28

 Die Vergabe von Kleinstkrediten in der Dritten Welt sowie von Existenzgründerdarlehen an Lang­zeitarbeitslose in den Industrieländern, die das Ziel verfolgt, Menschen, die vom Arbeitsmarkt ver­nachlässigt werden, ein Erwerbseinkommen zu ermöglichen, hat unter den Namen Micro-Lending, Mikrokredit oder Mikrofinanz (microfinance) Berühmtheit erlangt.2 Nachdem 3000 Jahre verzinsli­che Kredite für Arme als Wucher/Usura bezeichnet, reguliert und verboten wurden, diese im Rah­men des Industriekapitalismus später zwar dereguliert, aber als unproduktiv und gefährlich reguliert wurden und erst 1963 die rigiden Zinsgrenzen in Deutschland fielen, nachdem ferner erst jüngst mit der Subprime-Krise in den USA und England gerade die hochpreisigen Kleinkredite wie Payday Loans und Kreditkartenkredite viele Familien und auch die Kapitalmärkte ruinierten, ist die Um­kehrung dieser historischen Erfahrungen in der weltweiten Bewegung hin zum Kleinkredit als Mit­tel gegen Armut einer kritischen Reflexion wert.
 

Die Technik: Kleinkredite für Existenzgründung

Microlending, wörtlich übersetzt eine „Kleinstkreditvergabe“, ist technisch die Vergabe von ver­zinslichen Kleinkrediten ohne Kreditwürdigkeitsprüfung und Sicherheiten zur Existenzgründung an Menschen ohne Arbeit. Während in der Dritten Welt Kreditbeträge von bis zu $200 genannt wer­den, sind es in den entwickelten Ländern Beträge bis zu $20.000. Wie bei allen investiven Krediten soll die Rückzahlung einschließlich der Tilgung der Zinsen aus der Verwandlung des geliehenen Geldkapitals in Produktionsmittel erfolgen, die dann der eigenen Arbeitskraft die Möglichkeit er­schließen, verkäufliche Waren und Dienstleistungen zu erzeugen und die Rückzahlung und Zinsen für die Gläubiger sowie einen Beitrag zu den Lebenshaltungskosten des Schuldners zu erwirtschaf­ten. Mikrokredite entsprechen daher ohne Zweckbindung vergebenen „Verbraucher“krediten.

Eine Reihe von Banken in der dritten Welt, die sich zum ML bekennen, weisen sich nur deshalb dem ML zu, damit sie in den Genuss von Subventionen und Aufmerksamkeit der Industriestaaten und ihres wohltätigen Apparates gelangen.

Einige Besonderheiten werden betont.

Das ML soll nicht im normalen Bankgeschäft vertrieben werden. Banker hätten nicht gelernt, mit diesen Problemen umzugehen. In Anlehnung an die chinesische Volksmedizin mit Barfußärzten wird von Barfußbankern gesprochen. Tatsächlich sind auch nur ganz ausnahmsweise ausgebildete Banker im ML tätig. Aktivisten des Sozialsektors sind hier häufiger anzutreffen wie z.B. das Tan­dem der LSE Absolventin und ehemaligen Chefin einer französischen Entwicklungshilfeagentur Maria Novak1 und des Universitätsprofessors Muhammad Yunus. Andererseits zeigen Personen wie Rosalind Copisarow, dass auch eine lange Karriere im Retailbanking der Citibank für diese Funktion qualifiziert. Letztlich unterstreicht die überwiegende Herkunft der Akteure aus den Non-Banks, dass banktechnische Fähigkeit und Erfahrung sekundär sind. Man umgeht mit dem Bekenntnis zur Sozialarbeit die Bankaufsicht sowie die professionellen Standards im Bankgeschäft und begibt sich damit auch der Möglichkeit, das Spargeschäft durchzuführen, das weltweit eine Bankenkonzession erforderlich macht. Damit wird auch der Unterschied zu den Moneylendern gering, die außerhalb des Bankgeschäfts mit aufsichtsfreier Kreditweitergabe und Kreditmakeln als Wucherkreditgeber der Dritten Welt den Regeln des Bankgeschäftes und seiner Aufsicht entkommen.

Als Abgrenzungskriterium wird vor allem das non-for-profit Kriterium verwandt, das allerdings auch von Sparkassen verwandt wird.. Es hindert einen MLer wie z.B. Copisarow bei STREET nicht daran, hohe Gehälter zu verlangen und auf diese Weise einen vielleicht noch weniger kontrollierten Gewinn aus dem Geschäft zu ziehen. Weil die meisten ML Banker durch ML selber ihr Gehalt er­wirtschaften, ist das Eigeninteresse wie bei allen erfolgsgesteuerten Managementfunktionen nicht neutralisiert.

ML betont, dass es den Einzelnen nicht isoliert, sondern als Mitglied einer Gruppe (Peer Group Lending) ansieht. Im Prinzip wird die Gruppe durch gesamtschuldnerische Haftung für die Kredite zusammengeschweißt. Damit soll Solidarität und Kooperation gefördert werden. In Israel, wo die Hypothekenkreditgeber regelmäßig sieben Bürgschaften verlangen, um ebenso wie in der Praxis Deutscher Banken Familienangehörige mithaften zu lassen (Familienbürgschaft, Sicherungsgesamt­schuld), wird dagegen offener auf die Gläubigerinteressen verwiesen, die damit Vermögensver­schiebungen verhindern und ihre Inkassomöglichkeiten erhöhen wollen. Da auch im ML nicht quo­tal, sondern gesamtschuldnerisch gehaftet wird, erhält letztlich der Gläubiger erhebliche Macht über die Kreditnehmer, die er durch seine Inanspruchnahme auch willkürlich ausüben kann. Die Indivi­dualisierung des Kunden durch den Gläubiger wird letztlich nur verdeckt. In Europa, wo einige Kreditrechtsordnungen die uneigennützige Familienmithaftung verbieten (Deutschland) oder stark einschränken (Belgien, Frankreich) oder mit Warnhinweisen versehen (England, Irland, Österreich), hat das Peer Group Lending im ML mit Recht wenig Anwendung gefunden.

ML wendet sich in erster Linie an Frauen. Ihnen soll durch die Anerkennung und Ermöglichung als Unternehmerinnen „finanzielle Unabhängigkeit, mehr Einkommen sowie Stolz und Würde“ verlie­hen werden.“2 Damit wird auch die geringe Ausfallquote begründet, weil Frauen die besseren Un­ternehmerinnen seien und pflichtbewusster handelten als Männer, was Femministinnen gerne auf­nehmen.

Schließlich wird die Betreuungsfunktion betont, wonach nicht die eigentliche Kreditbeziehung, sondern der Umstand, dass der Micro-Lender eine Existenzgründung zur Flucht aus Armut und Ar­beitslosigkeit mit Rat begleite und unterstütze, entscheidend sei.

Geprägt wird die Praxis des ML durch einige wenige, sehr große non-for-profit Akteure wie ACCI­ON, FINCA, Grameen Foundation, Opportunity International und Unitus sowie viele sehr kleine Anbieter, die als Ableger von Entwicklungshilfeorganisationen oder sozialen Einrichtungen sich vor allem in den USA, den Niederlanden und England sowie in der Dritten Welt etabliert haben. Auf der gemeinsamen Website der SMART Aktion der Mikrofinanzwelt3 finden sich neben vielen hunderten von Unterstützungs-, Sponsoring und Netzwerkorganisationen mehr als 550 Anbieter, die nach eigenem Bekunden als Bank, Kooperative oder Initiative teilweise auch in mehreren Ländern zugleich Mikrokredite anbieten. Der Internet-Vermittler KIVA vermittelt weltweit die Refinanzie­rung von Einzelkrediten bei 171 Mikrofinanz-Organisationen mit einem Volumen von insgesamt überschaubaren 230 Mio $ seit Gründung im Jahre 2005. Der individuelle Sparer soll sich (ähnlich wie bei den Armutspatenschaften für Kinder der Dritten Welt), unmittelbar als Kreditgeber fühlen. Er hat die Möglichkeit, sich Kreditnehmer nach Kreditwürdigkeits-Sternen auszusuchen, die offen­sichtlich KIVA selber verleiht. Mit seiner Einlage trägt der Sparer rechtlich das Rückzahlungsrisi­ko. Tatsächlich darf er es aber auf 0% reduzieren. Im Durchschnitt beträgt es 1,2% und ist damit zu vernachlässigen.4 Bankaufsichtsrechtlich dürfte es sich um die Vermittlung verbotener Spar- und Einlagengeschäfte an Nicht-Banken handeln.

Auf der Welle der ML-Sympathie etablieren sich sowohl eine Vielzahl von Wucherinstitutionen der Dritten Welt als auch heimische Unternehmensberatungen wie z.B. die Gesellschaft für Unterneh­mensberatung und Mikrofinanzierung (GUM) GmbH, die mit dem Label „Mikrofinanzierung“ Kun­den für übliche Finanzierungsberatungsleistungen anwirbt.5 Die Weltbank versucht mit immer neu­en Richtlinien und Empfehlungen, insbesondere über ihre „Gruppe zur Beratung von Hilfe für die Ärmsten“ (CGAP)6, den sich relativ chaotisch und außerhalb traditioneller Bank- und Kreditregulie­rung entwickelnden Bereich des ML letztlich den Regeln eines verantwortlichen Banking wieder näher zu bringen. Bisher galten diese Regeln für das „sinnvolle Geschäft untadeliger Wohltäter“ eher als „bürokratische Hürden“, die es abzubauen gelte, wie u.a. in Frankreich der Fall der Wu­chergrenze und in Deutschland die Freigabe ungesicherter Kleinkreditfonds zeigt.

Die Bewegung: Befreiung aus Armut durch Selbsthilfe

Microlending ist viel mehr als die praktische Tätigkeit weniger großer, internationaler und vieler vor allem sehr kleiner Entwicklungsorganisationen, nämlich eine weltweit aktive Überzeugung von Menschen in politisch und ökonomisch verantwortlichen Positionen. Es wird in Talkshows gerne als Ausweg aus der Krise gepriesen wird.7

Fußnoten

1 Ausgebildet in Paris und London am LSE ist sie neben der ebenfalls aus Polen stammenden Rosalind Copisarow die herausragende Botschafterin des ML ( Maria Nowak : La Banquière de l’espoir. Celle qui prête aux exclus, Albin Mi­chel, 1994; On ne prête (pas) qu’aux riches. La révolution du microcrédit, Jean-Claude Lattès, 2005; Anne Hirsch et Maria Nowak : La Place des invisibles, Jean-Claude Lattès, 2004; Le microcrédit ou le pari de l’homme, Rue de l’échi­quier, 2009; L’espoir économique. Microfinance et entrepreneuriat social, ferments d’un monde nouveau, Jean-Claude Lattès, 2010.

5 http://www.gum-deutschland.de ; für weitere kommerzielle Anbieter vergleiche unten.

7 So der angesehene Wissenschaftsjournalist, ARD-Moderator und Physiker Ranga Yogeshwar (http://de.wikipedia.org/wiki/Ranga_Yogeshwar) in der ARD Sendung Beckmann – Beckmann v. 08.12.2011 „Auswege aus der Krise – sind die Grenzen des Wachstums erreicht?“.

1Eine kürzere überarbeitete Fassung ist in der Zeitschrift Kritische Justiz, Heft 4, 2011 unter dem Titel „Mythos Microleding – Zur Produktion eines Vorverständnisses im Kreditverhältnis” veröffentlicht. Der Aufsatz wurde angeregt durch einen Vortrag in der Ringvorlesung „Wirtschaft, Konsum & Menschenrechte“ der Amnesty International Hoch­schulgruppe Köln, AstA, der Universität zu Köln am 13. Juli 2011 und schließt sich an den Vortrag „Mythos Jugend­verschuldung” an, den ich zur Jahrestagung der Schuldnerberatung Bern (Schweiz) am 2. Februar 2007 gehalten habe. In dem Buch Reifner, Die Geldgesellschaft – Aus der Finanzkrise lernen, Hamburg (VS-Verlag) 2010 (S. 372) sind die Hintergründe eingehend beschrieben worden.

2Reifner, U. Microlending in industrialisierten Gesellschaften, 2001; Microcredit, in: Banking & Finance Law Review Toronto 2008 S. 146-198; Pierret, D.; Reifner, U; Conditions règlementaires pour l’extension du credit a but social – si­tuation francaise, synthèse européenne, Paris édition et diffusion éficea octobre 2001; Reifner, U. et alt. Microlending – A Case for Regulation, Nomos Baden-Baden 2001; Evers, Jan ; Reifner, Udo (Hrsg.), The social responsibility of credit institutions in the EU : access, regulation and new products = Die soziale Verantwortung von Kreditinstituten in der EU : Zugang, Regulierung und neue Produkte = La responsabilité sociale des institutions financières au sein de l’UE : Accés réglementation et produits nouveaux Nomos: Baden Baden 1998.