Trotz boomenden Arbeitsmarktes kein Rückgang der Überschuldung

  • Einkommensarmut zweithäufigster Überschuldungs­auslöser
  • Verbrau­cher­insolvenz­verfahren trotz Reform rückläufig
  • 1,8 Millionen gemeldete Pfändungs­schutz­konten

Hamburg, 02.11.2015 – Das Hamburger institut für finanzdienst­leistungen e.V. (iff) stellt heute – zusammen mit der Stiftung „Deutschland im Plus” – den iff-Überschuldungsreport 2015 vor. Die Untersuchungsreihe erscheint bereits zum zehnten Mal. Ein positiver Indikator im Hinblick auf die finanzielle Situation der Privathaushalte ist das nachhaltige Wirtschaftswachstum in Deutschland, der damit verbundene Rückgang der Erwerbslosenzahl sowie die zum vierten Mal in Folge gesunkene Anzahl der Verbraucherinsolvenzverfahren. Dennoch ist kein breiter Rückgang der Überschuldung in Deutschland festzustellen. So waren im Jahr 2014 rund 3,36 Mio. Haushalte überschuldet, was einer leichten Steigerung von 60.000 gegenüber dem Vorjahr entspricht. Damit bleibt das Thema Überschuldung, auch eine Dekade nach Erscheinen des ersten iff-Überschuldungsreports, als gesamtgesellschaftliche Herausforderung hochaktuell. Wichtiger denn je sind daher Angebote zur Überschuldungsprävention wie die der gemeinnützigen Stiftung „Deutschland im Plus”.

Bei fast drei Viertel aller Privathaushalte wurde einer der großen Sechs („Big Six”) Hauptüberschuldungsgründe angegeben. Dazu zählen Arbeitslosigkeit und reduzierte Arbeit (26,8 Prozent), Einkommensarmut (10,5 Prozent), gescheiterte Selbstständigkeit (10,0 Prozent), Scheidung oder Trennung (9,0 Prozent), irrationales Konsumverhalten (8,6 Prozent) und Krankheit (7,7 Prozent). Trotz des konjunkturbedingten Rückgangs bei der Arbeitslosigkeit ist ein starker Anstieg des Auslösers Einkommensarmut (Vorjahr: 7,3 Prozent) auszumachen.
Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass eine Verschiebung vom Überschuldungsauslöser Arbeitslosigkeit hin zu Einkommensarmut stattgefunden hat. Im Zuge der positiven Konjunkturentwicklung ergab sich zwar ein Zugewinn an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, diese wirft aber offenbar für viele Menschen nicht genug ab, um ihren Lebensunterhalt vollständig bestreiten zu können. Denn im Fall von Einkommensarmut liegt kein vorübergehender Mangel an Finanzmitteln vor. Daher können natürliche Liquiditätsschwankungen in der Regel nicht mehr aufgefangen werden. Dazu passt der nach wie vor hohe Anteil an „Aufstockern”, also diejenigen Bezieher von Arbeitslosengeld II, die trotz Erwerbstätigkeit auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. Unter allen ALG-II-Beziehern lag deren Anteil im Jahr 2014 bei 29,5 Prozent (Vorjahr: 29,6 Prozent).
Daher wird in diesem Zusammenhang kritisch zu beobachten und analysieren sein, welche Auswirkungen der im Januar 2015 eingeführte Mindestlohn auf den Überschuldungsauslöser Einkommensarmut hat.

Erfreulich ist hingegen, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf einen positiven Trend hinsichtlich der Überschuldungsbetroffenheit der Bevölkerung in Deutschland hinweisen. Die Arbeitslosigkeit war trotz Zuwanderung weiter rückläufig und die Zahl der Gründungen hat sich erhöht.
Mit der positiven Lage am Arbeitsmarkt geht auch die Entwicklung bei den Eröffnungen von Verbraucherinsolvenzverfahren einher. Trotz der im Jahr 2014 in Kraft getretenen Reform des Insolvenzrechts, die eine verkürzte und beschleunigte Restschuldbefreiung vorsieht, kam es zu einem deutlichen Rückgang der Verbraucherinsolvenzen auf einen fast historisch niedrigen Wert von 84.443 Eröffnungen. Insgesamt warteten im Jahr 2014 rund 700.000 Personen in Deutschland auf Restschuldbefreiung.

„Auch wenn die Lage am Arbeitsmarkt nach wie vor sehr solide ist, stecken immer noch viel zu viele Menschen in der finanziellen Krise. Denn Überschuldung ist in Deutschland oftmals verfestigt und nur schwer überwindbar”, fasst iff-Experte Michael Knobloch zusammen.

Pfändungsschutzkonto hat sich etabliert

Bei der Versorgung mit Girokonten und dem Schutz vor Kontopfändungen gibt es positive Entwicklungen. Seit 2004 hat sich der Anteil der Kontolosen unter den Klienten nahezu halbiert. Zudem hat sich das so genannte Pfändungsschutzkonto („P-Konto”) durchgesetzt. Inzwischen sind bei der Schufa knapp zwei Millionen solcher Konten registriert – mit nach wie vor steigender Tendenz.

„Obwohl die gesetzliche Verankerung des Anspruchs auf ein Girokonto erst in den Kinderschuhen steckt, ist die Kontolosigkeit unter den Ratsuchenden in Schuldnerberatungsstellen zurückgegangen. Sie lag im Jahr 2014 bei nur noch etwa neun Prozent. Seit 2004 hat sich der Anteil der Kontolosen nahezu halbiert. Das mag daran liegen, dass einige Banken und Bankengruppen das Gesetz bereits antizipiert haben”, so iff-Experte Knobloch. Weniger positiv ist hingegen, dass Überschuldung vielfach gefestigt zu sein scheint. Eine exklusiv vorgenommene Auswertung des Lebensalters der P-Konten ergibt, dass etwa drei Viertel dieser Konten eine Überlebenswahrscheinlichkeit von vier oder mehr Jahren haben.

Außergerichtliche Entschuldung in jedem fünften Fall erfolgreich

Im Rahmen des iff-Überschuldungsreports 2015 wurde eine Auswertung zur außergerichtlichen Regulierung von Überschuldungsfällen durchgeführt. Demnach konnte im Jahr 2014 bereits in 20 Prozent der Fälle in der Schuldnerberatung eine außergerichtliche Einigung erzielt werden. Zwar dominieren mit 56,7 Prozent der Fallzahlen nach wie vor Insolvenzverfahren, auch wenn seit 2007 ein Rückgang festzustellen ist. Die Vorteile außergerichtlicher Regulierungen liegen aus Sicht der Schuldner insbesondere darin, dass eine Stigmatisierung vermieden wird, wie sie mit dem Insolvenzverfahren in ihrer Wahrnehmung verbunden ist, und mehr Räume für individuelle Lösungen bestehen. Knobloch weist noch auf einen anderen Faktor hin: „Die individuelle Überschuldungsdauer ist mit durchschnittlich etwa 14 Jahren immer noch viel zu lang. Mehr außergerichtliche Schuldenregulierungen könnten hier eine deutliche Besserung bringen. Sie gelingen aber nur, wenn die Betroffenen sich schon sehr früh professionelle Hilfe suchen. Leider ist das viel zu selten der Fall, was auch mit dem der Überschuldung anhaftenden Stigma und Gefühl des persönlichen Scheiterns zusammenhängt.”

Bei den außergerichtlichen Einigungen liegen die durchschnittlichen Schulden bei knapp der Hälfte der Insolvenzfälle (16.235,77 Euro zu 34.902,35 Euro). Noch stärkere Unterschiede gibt es bei der Anzahl der Forderungen. Gelingt eine außergerichtliche Schuldenregulierung, stehen durchschnittlich nur sechs Forderungen im Raum. Bei den Insolvenzfällen sind es mehr als 14. Außergerichtliche Regulierungen gelingen damit umso besser, je weniger Gläubiger in die Verhandlungen mit einbezogen werden müssen und je geringer die Schulden sind. „Eine solide finanzielle Allgemeinbildung, ein vollständiger Überblick über alle Außenstände und schnelle professionelle Unterstützung sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren für das Gelingen außergerichtlicher Einigungen. Denn schon ein vergessener Gläubiger kann den gesamten Zahlungsplan und damit die Regulierung zunichtemachen”, so Dr. Christiane Decker, Vorsitzende des Stiftungsvorstands „Deutschland im Plus, die den iff-Überschuldungsreport jährlich beauftragt. Diese Einschätzung bestätigt auch iff-Experte Knobloch. „Mit einem Anteil von knapp 43 Prozent gelingen außergerichtliche Regulierungen bei den Älteren besonders häufig. Ein Grund dafür könnte sein, dass diese Altersklasse einen vergleichsweise guten Überblick über ihre Gläubiger und Verbindlichkeiten hat. Das zeigt, dass bei den Jüngeren beim Wissen über den Umgang mit Geld offenbar ein deutlicher Nachholbedarf besteht.”

Finanzielle Bildung wichtigster Stellhebel zur Schuldenprävention

Die Stiftung „Deutschland im Plus” engagiert sich für finanzielle Bildung im Rahmen zielgruppengerechter Aufklärungs- und Hilfsprojekte zur Überschuldungsprävention für alle Altersklassen. Die gemeinnützige Stiftung hat sich das Ziel gesetzt, möglichst viele Bürger für einen angemessenen und verantwortungsvollen Umgang mit den eigenen Finanzen zu sensibilisieren, damit diese die richtigen Budgetentscheidungen treffen können. „Neben den vielfältigen Beratungsangeboten in den Schulen, mit denen wir insgesamt schon über 45.000 Schülerinnen und Schüler erreichen konnten, bauen wir auch unser digitales Angebot stetig aus. Die App „Mein Budget” wurde seit Veröffentlichung im Jahr 2013 bereits 40.000-mal geladen. Damit wollen wir erreichen, dass sich Menschen nachhaltig mit ihren Finanzen beschäftigen – aus unserer Sicht der wichtigste Aspekt bei der Überschuldungsprävention”, erläutert Dr. Decker.

Über den iff-Überschuldungsreport:

Das Hamburger Institut für Finanzdienstleistungen (iff) erstellt seit 2007 den jährlich erscheinenden iff-Überschuldungsreport, der auf einer detaillierten Auswertung von Haushalten, die eine Schuldnerberatungsstelle aufsuchen, basiert. Der diesjährige iff-Überschuldungsreport beruht auf einer Datenbasis von mehr als 57.000 Haushalten in ganz Deutschland. Ausgewertet wurden die anonymisierten Daten von 20 Beratungsstellen in allen 16 Bundesländern. Die Ergebnisse bilden damit ein belastbares Bild zur Lage der Klienten von Schuldnerberatungsstellen ab und schaffen Transparenz für die Ab- und Herleitung praktikabler Handlungsempfehlungen.

Die Erstellung des Berichts wird von der Stiftung „Deutschland im Plus” gefördert.

Ansprechpartner für die Medien:

Zum Überschuldungsreport:
Michael Knobloch
Tel. 040-309691-0
E-Mail: michael.knobloch@iff-hamburg.de

Zu den Aktivitäten der Stiftung „Deutschland im Plus”:
Christina Mahlein
Tel. 0911-9234-950
E-Mail: info@deutschland-im-plus.de